HINTERGRUND

"Bauern, Hirten, Soldaten, Händler, Kutscher aus den Reisebuszentralen, Taxistellen, Haltestellen für unausgeschlafene Autos: verdichtet zu einer müßigen Masse, versunken in der Betrachtung des alltäglichen Hin und Her, aufgenommen in die Ausschweifungen und Heiterkeit des Umkreises, in immerforttreibenden und beliebigen Bewegungen: sofortiger Kontakt zwischen Unbekannten, Vergessen der sozialen Zwänge, sich wieder finden in das Gebet und das Lachen, temporäre Aufhebung der Hierarchien, fröhliche Gleichheit der Leiber."

 

Juan Goytisolo über den Platz Jemaa El Fna in Marrakesch

 

 

Auf diesem jahrhunderte alten städtischen Platz, dem Djemaa El Fna in Marrakesch, versammeln sich täglich Einheimische und Durchreisende, Neugierige und Müßigänger, um sich von den performativen Künsten der “Hlaiqi”, der Tänzer, Sänger, Akrobaten und Geschichtenerzähler begeistern und überwältigen zu lassen.

Der Djemaa El Fna, der „Platz der Gehenkten“ in Marrakesch, ist der großartige Schauplatz von täglich neu entstehenden, abwechslungsreichen zirzensischen Darbietungen. Es ist ein Patchwork von sich ständig erneuernden Traditionen, die heute mit Recht zum „immateriellen Weltkulturerbe“ (UNESCO) gerechnet werden.

 

 

Die Halqa

Die räumliche Verteilung von Zuschauern und Künstlern, der Ring, der Kreis, zu dem sich die Neugierigen und die Müßiggänger um das Zentrum der Darbietungen schließen, wird als Halqa bezeichnet.

 

Die Halqa ist mehr als nur Unterhaltung und Show, sondern immer auch ein probates Mittel zur Konstruktion von kultureller Identität. Der unmittelbare ästhetische Reiz, das bewegliche Spiel und der gewissermaßen osmotische Austausch zwischen Künstlern und Zuschauern dient auch dazu, Informationen und Neuigkeiten weiterzugeben, die Menschen zu unterweisen und durch moralische Geschichten und Parabeln zu belehren.

 

In Zeiten, in denen viele der Zuschauer und Zuhörer nur sehr langsam und bruchstückhaft mit Neuigkeiten von weit entfernten Ereignissen versorgt wurden, war der Geschichtenerzähler ein Bote, ein Wissensvermittler und ein Übersetzer religiöser, mythologischer, historischer und intimer Geschichten.

 

 

Die Halqa als Urform des Theaters

 

Die Halqa könnte man als eine sehr archaische Form des Theaters bezeichnen: 

Eine kreisförmige, bewegliche, pulsierende ‚Architektur’ von Zuschauern, die sich um den Künstler formiert. Genauer noch würde die aus der Antike überlieferte Form des „Circus“/“Zirkus“ — bei dem der Kreis wörtlich festgehalten ist — die Halqa charakterisieren. Doch sowohl „Theater“ als auch „Zirkus“ sind genuin europäische Begriffe und Kulturformen, die keine echten Entsprechungen in der Kultur des Maghreb kennen.

 

Die teilweise sehr alten Muster und Stoffe, die in die Geschichten eingewoben sind, vermitteln einen Einblick in die kollektive Seele des Maghreb, über Wertvorstellungen und moralische Haltungen, deren Andersartigkeit — beispielsweise in Fragen der Geschlechterrolle — ein Lehrstück über die Relativität und die historische Wandelbarkeit kultureller und ethischer Standards ist.

 

Die Künste dieser virtuosen, wort- und gestenreichen Gaukler sind im Verschwinden begriffen. Der Platz Djemaa hat sich in den letzten fünf Jahren rapide verändert. Neben den Internet-Cafés machen sich Teestuben und Cafés breit, die mit überdimensionalen Bildschirmen ausgestattet sind, auf denen Holly- und Bollywood-Filme zum Preis eines Getränks gezeigt werden. Das Schwarzmarktgeschäft mit selbstgebrannten DVDs aus aller Welt, ist endemisch geworden.

 

 

Angesichts der blendenden Faszination, die von den elektronischen Medien ausgeht und der scheinbar mühelosen Verfügbarkeit und dem passiven Genuss globaler Spektakel, haben es die Gaukler, die Akrobaten, Tänzer, Zauberer und Geschichtenerzähler nicht leicht.